Das Erste, was Thorwen erblickte, war rauer Stein. Seine Verwirrung währte jedoch nur kurz, dann fiel ihm wieder ein, dass er sich noch immer in der Höhle befand, in der er Schutz gesucht hatte.
Sein Spähtrupp war in einen Hinterhalt geraten, und einer seiner Männer war etwas zu voreilig gewesen. Thorwen hatte einen schweren Schlag einstecken müssen, als er versucht hatte, die Situation zu retten.
Das Messer, das ihn verletzt hatte, war mit einem Betäubungsmittel getränkt gewesen, das die Reflexe verlangsamte, und in dem Wirrwarr des Kampfes war er von seinen Sippenmitgliedern getrennt worden.
Thorwen erinnerte sich vage daran, in eine Höhle gestolpert zu sein, bevor er das Bewusstsein verloren hatte.
Er blinzelte leicht in das Dämmerlicht der Höhle.
Zu seiner Linken bewegte sich etwas. Er wandte den Kopf und blinzelte überrascht, als er die kleine Gestalt sah, die zusammengerollt neben ihm lag.
Ein Kind?!
Er verengte die Augen, und griff nach seinem Schwert.
Das war der Moment, indem er bemerkte, dass der provisorische Verband an seinem Arm fehlte und seine Wunde auf mysteriöse Weise verheilt war.
Er hielt inne und blickte von der makellosen Haut zu dem Kind und wieder zurück.
Hatte sie ihn geheilt?
Er neigte sich zur Seite, um seine junge Begleiterin eingehender zu betrachten.
Seine Miene wurde hart, als er die für den Uluwayt-Clan typischen Gesichtszüge erkannte.
Thorwens Hand umschloss den Griff seines Schwertes. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie zu töten, wehrlos und schlafend, wie sie neben ihm lag. Aber seltsamerweise war es genau das, was ihn davon abhielt.
Als hätte sie seine mörderischen Absichten gespürt, öffnete das Kind die Augen und schenkte ihm ein zaghaftes, aber ehrliches Lächeln. „Ihr seid wach. Ich bin froh.“
Sie klang aufrichtig erleichtert. Thorwen wusste nicht, was er von dieser Ehrlichkeit halten sollte.
„Ich habe mir Sorgen gemacht“, fuhr sie fort, „da draußen sind böse Männer, die nach Ihnen suchen, und ich glaube nicht, dass ich sie davon abhalten kann, Euch zu töten.“
Böse Männer? Sie daran hindern, ihn zu töten? Wovon sprach sie?
Das Kind versuchte aufzustehen, aber Thorwen würde auf keinen Fall zulassen, dass ein Uluwayt sich in seiner Gegenwart frei bewegen konnte.
Sein Schwert glitt aus seiner Scheide und kaltes Metall presste gegen die schmale Kehle.
Das Kind erstarrte unter seinem eisigen, distanzierten Blick. „Wer bist du?“, fragte er scharf.
„Rhea“, antwortete sie leise. „Mein Name ist Rhea.“
„Nun gut, Rhea von den Uluwayt“, er betonte ihren vollen Namen. „Erkläre dich, oder stirb.“
Das junge Mädchen schluckte und warf einen nervösen Blick auf den Stahl, der ihr Leben bedrohte. „Ich habe Euch in dieser Höhle gefunden. Ihr wart bewusstlos … Ich wollte gehen, aber dann sah ich, dass Ihr verletzt wart …“
„Du hast mich geheilt“, stellte Thorwen mit ausdrucksloser Miene fest und verengte seine Augen. „Warum?“ Er drückte die Klinge fester gegen ihre Kehle. Eine falsche Bewegung und die Schneide würde Haut durchstoßen.
Das Mädchen senkte den Blick und der kleine Körper zitterte. Er passte den Druck seines Schwertes gerade so weit an, dass sie sich nicht versehentlich selbst aufspießte. „Ich … ich wollte nicht noch mehr sterben sehen.“
Sie sah völlig wehrlos aus; zitternd auf dem Boden liegend, ein Schwert fast so groß wie ihr eigener Körper an der Kehle und Thorwen wurde plötzlich bewusst, wie jung sie eigentlich war. Er unterdrückte ein Seufzen und bezwang seine instinktive Feindseligkeit, indem er sich daran erinnerte, dass sie ihm völlig ausgeliefert war und keine Bedrohung darstellte. „Erzähle mir von den Männern, die du erwähnt hast.“
„Es sind drei“, antwortete das Kind schnell und wich seinem Blick aus. „Einer von ihnen trug eine schwarze Kapuze und hinkte, ein anderer hatte eine sehr kratzige Stimme und der Dritte roch nach Moschus, Tabak und Rauch.“
Thorwens zweite Augenbraue gesellte sich zur ersten. Die Beschreibungen waren zwar nicht sehr detailliert, aber für jemanden ihres Alters doch recht beeindruckend, zumal sie nicht nur ihre Augen, sondern auch ihre anderen Sinne eingesetzt hatte, um die Personen zu unterscheiden.
Wenn sie ihre Fähigkeiten verbesserte, würde sie eines Tages eine ausgezeichnete Wächterin abgeben – und eine weitere Bedrohung für seinen Clan werden.
Thorwen schob diesen Gedanken beiseite und legte seine freie Hand auf den Boden, um sich mit der Erde zu verbinden. „Ich kann keine Präsenzen spüren. Sie sind entweder nicht mehr in der Nähe, oder sie haben durch die Hände meiner oder deiner Sippe ihr Leben gelassen.“
Das Gesicht des Kindes trübte sich leicht, und es sah beinahe traurig aus. „Oh.“
Thorwen betrachtete sie mit scharfem Blick. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte ihn vage an seinen Bruder Helion. Er sah jedes Mal genauso aus, wenn Kayron mal wieder eines seiner Friedensangebote ausschlug. „Du würdest den Tod eines Feindes betrauern?“
Die Tatsache, dass sie seinem Blick auswich, war Antwort genug.
Es war ein gefährliches Bekenntnis. Hätte sie es vor ihrem Clan gemacht, wäre sie zweifelsohne schwer bestraft worden. Der Feind war genau das. Ein Feind. Ein inhumanes Wesen. Etwas, das ohne Gnade vernichtet werden musste, ganz gleich, welche Form es annahm.
Sie hatte diese eiserne Regel gebrochen, als sie ihn gerettet hatte.
Er fragte sich, ob sie sich seiner Identität überhaupt bewusst war. „Kind, weißt du, wer ich bin?“
„Ihr gehört zum Myrat-Clan?“, fragte sie zögernd.
Thorwen lächelte ironisch. „So könnte man es auch nennen. Ich bin Thorwen Myrat.“
Thorwen spürte, wie ihre Aura vor Angst in die Höhe schnellte, bevor sie sich wieder beruhigte. „Bereust du jetzt, dass du mich gerettet hast?“, fragte er ungerührt.
„Nein, das tue ich nicht.“
Wieder einmal wurde Thorwen aus dem Konzept geworfen. Er hatte Furcht, Abscheu oder sogar Hass erwartet. Aber ihr Gesichtsausdruck war genauso aufrichtig wie zuvor, auch wenn er einen leichten Schimmer von Angst in den dunklen Augen sehen konnte.
Einen Moment lang herrschte unangenehmes Schweigen, bevor seine kleine Gefangene eine zaghafte Frage stellte. „Werdet Ihr mich jetzt … töten?“
Die Antwort hätte ja lauten müssen, und zu jedem anderen Zeitpunkt wäre sie es wahrscheinlich auch gewesen. Aber Thorwen war diesem kleinen Kind in seinen Händen etwas schuldig. Es fühlte sich nicht richtig an, sie zu töten, nachdem sie ihm geholfen hatte. Er hasste es, Kinder zu töten. Besonders, wenn sie so hilflos und jung waren wie das, das gerade unter seinem Schwert zitterte.
Er fasste einen Entschluss. „Meine Klinge wird dich heute nicht treffen. Im Gegenzug für deine Hilfe wirst du dein Leben und deine Freiheit behalten. Ich werde dafür sorgen, dass du sicher zu deinem Clan gelangst.“ Er ließ das Schwert sinken.
Thorwen konnte deutlich die Erleichterung und Dankbarkeit in ihren Augen sehen, auch wenn sie von Sorge überschattet wurden. Sorge um ihn, stellte er fest, als sie wieder das Wort ergriff. „Ihr seid gerade erst aufgewacht, Khán Myrat. Ihr solltet Euch noch ein wenig ausruhen.“
Es war erstaunlich. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er ihr Leben bedroht, und dennoch sorgte sie sich um sein Wohlergehen.
„Ich habe keine Zeit, mich auszuruhen“, erwiderte er knapp, „nicht wenn die Feinde so nah sind.“ Er warf ihr einen tadelnden Blick zu. „Es war töricht von dir, so unmittelbar in meiner Nähe einzuschlafen. Ich hätte dich im Schlaf niederstrecken können.“
Thorwen wusste nicht, warum er sie für ihre Nachlässigkeit tadelte. Schließlich war es nicht so, als wäre er für sie verantwortlich. Ganz im Gegenteil. Sie war das Kind seiner Feinde. Von einem logischen Standpunkt aus gesehen war es eine schlechte Idee, sie zu belehren. Aber dennoch verspürte er den Drang, sie für ihren Mangel an gesundem Menschenverstand zurechtzuweisen.
„Ich war müde“, murmelte sie und fummelte am Saum ihres Hemdes herum, „und ich fürchtete, Ihr würdet angegriffen werden.“
Thorwen stöhnte beinahe laut auf. Hatte dieses Kind keinen Selbsterhaltungstrieb? So etwas erzählte man doch nicht seinem Feind.
Er fragte sich wirklich, was sie überhaupt außerhalb ihres Clangeländes zu suchen hatte. Niemals hätte er ein so wehrloses Kind wie sie aus den Augen gelassen – und wenn er Kayron Uluwayt nicht vollkommen falsch einschätzte, dann würde er es auch nich. Der Mann war vieles, aber nicht dumm.
Das ließ nur eine Schlussfolgerung zu. „Du hast das Territorium deines Clans ohne Erlaubnis verlassen. Aus welchem Grund?“
Sie sah zu Boden. „Mein Vater“, murmelte sie leise. „Er ist vor einem Jahr nicht unweit von hier gefallen. Sie haben seine Leiche nicht gefunden. Ich wollte nur …“, ihre Stimme brach, und sie sah weg.
„Ich verstehe.“ Thorwens Gesicht war ausdruckslos, doch er fühlte sich seltsam unbehaglich. Er hatte angenommen, ihr Grund sei ein typisch Kindlicher gewesen und er hatte eine Antwort wie Neugierde oder Langeweile erwartet. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass sie das Risiko auf sich genommen hatte, um die Toten zu ehren.
„Vielleicht solltest du diese nicht genehmigten Ausflüge in Zukunft noch einmal überdenken. Ich glaube nicht, dass es im Interesse deines verstorbenen Vaters wäre, wenn ihr am selben Tag sterben würdet.“
Das Kind zuckte zurück.
Gut so. Vielleicht würde sie in Zukunft nicht mehr so unvorsichtig sein.
Thorwen versuchte sich aufzurichten, schwankte aber leicht und ließ sich wieder nieder. Eine winzige Hand schloss sich um seine und versuchte, ihn zu stützen. Es half wenig, aber er wusste die Geste dennoch zu schätzen.
„Ihr habt viel Blut verloren, Khán Myrat“, bemerkte das Mädchen leise, „bitte überanstrengt Euch nicht.“ Er drehte seinen Kopf, um sie anzusehen, und bemerkte beiläufig, dass sie nun neben ihm kniete.
„Khán Myrat?“
„Ja, Kind?“
Sie rutschte unruhig hin und her. Es war offensichtlich, dass sie ihn etwas fragen wollte, sich aber nicht traute, es auszusprechen. Wahrscheinlich aus Angst, sich damit seinen Zorn zuzuziehen.
Thorwen studierte ihr ausdrucksstarkes Gesicht und konnte förmlich sehen, wie sie ihren restlichen Mut zusammenkratzte.
Er war leicht beeindruckt, als es ihr tatsächlich gelang.
„Darf … darf ich aufstehen? In meiner Tasche ist ein Laib Brot, und ich würde ihn gerne holen – wenn Ihr es erlaubt, natürlich“, fügte sie schnell hinzu und senkte den Kopf.
Sie sah so zaghaft aus, als sie ihn um Erlaubnis bat, dass Thorwen den Drang unterdrücken musste, beruhigend eine Hand auf ihren Kopf zu legen, wie er es bei den Kindern seiner Sippe getan hätte. Stattdessen neigte er lediglich den Kopf. „Nur zu.“
Zu seiner Überraschung lächelte sie ihn strahlend an und lief los, um ein paar Schritte von ihm entfernt in einem kleinen Lederbeutel zu kramen, und kam dann mit einem fest verschnürten Tuch zurück.
Sie löste den Knoten und breitete das Tuch zwischen ihnen aus. „Vielleicht erholt Ihr Euch schneller, wenn Ihr etwas esst.“ Sie brach den Laib in zwei Hälften und biss in das kleinere Stück, während sie ihm das andere anbot.
Einen Augenblick lang starrte er sie einfach nur an und versuchte, die Tatsache zu begreifen, dass das Kind seinen Zorn riskiert hatte, um ihm zu helfen, dann nahm er das Angebot an. Für eine Weile war es still in der Höhle, als sie gemeinsam das Brot brachen.
Es war eine surreale Erfahrung, sich mit einem Mitglied des Uluwayt-Clans eine Mahlzeit zu teilen, so mager sie auch sein mochte.
Doch das Kind hatte recht gehabt. Das Essen half. Seine Kräfte kehrten tatsächlich zurück.
Das Mädchen hingegen sah ziemlich müde aus. Thorwen vermutete, dass die psychische Belastung sie nun endgültig einholte.
Er war nicht überrascht, als er sie gähnen sah. „Ruh dich aus“, befahl er ihr knapp, „für heute bist du bei mir sicher.“
Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu, gähnte erneut und rollte sich auf dem Boden zusammen. „Danke, Khán Myrat. Ihr seid wirklich … gütig …“
Thorwen erstarrte und verengte seine Augen in ihre Richtung, aber das Kind schlief bereits tief und fest, die schwarzen Haare wie ein Heiligenschein um ihren Kopf gelegt.
Ihr Gesichtsausdruck war entspannt, und sie sah im Schlaf sogar nochjünger aus. Thorwen ertappte sich dabei, wie er ihr einen schönen Traum wünschte, denn die Realität würde gnadenlos sein.
Sie musste mit einer harten Strafe rechnen, weil sie ohne Erlaubnis das Uluwayt Territorium verlassen hatte, und mit einer noch schlimmeren, da sie ihm geholfen hatte.
Möglicherweise würde man sogar ihren Tod fordern.
Der kleine Körper zitterte. Kein Wunder. Der Boden war zum Schlafen einfach zu kalt.
Thorwen zögerte nur eine Sekunde, bevor er seinen Mantel abstreifte und ihn über das fröstelnde Kind legte.
Das Mädchen bewegte sich unter dem unerwarteten Gewicht und vergrub ihr Gesicht tiefer in das flauschige Pelzfutter.
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